Unser Kollege und Lehrer für den Islamischen Religionsunterricht Seyed Mohammad Bagher Talgharizadeh gibt eine Einschätzung zur Corona-Krise aus islamischer Sicht und wendet sich damit besonders an unsere muslimischen Schülerinnen und Schüler und ihre Familien.
Die Corona-Krise, entstanden durch das Corona-Virus, ist eine Gefahr für die ganze Menschheit. Alle Menschen sind von ihr betroffen. Jeder einzelne Mensch hat die Pflicht sich zu fragen, was er zum Überwinden dieser Krise beitragen kann.
Es handelt sich dabei um die moralische und auch um die religiöse Verantwortung, die jeder in so einer Situation übernehmen soll. Für die Musliminnen und Muslime sind der Koran und die Sunna (Sagen und Taten des Propheten Muhammad) die Hauptquellen und Richtlinien für ihr religiöses und ethisches Handeln. Daher suchen sie in solchen Krisen vor allem in diesen Quellen nach Antworten. Fragt man also den Koran nach dem Wert und Schutz des Lebens, so bekommt man die folgende Antwort:
„Aus diesem Grund haben Wir den Kindern Israels angeordnet, dass, wer einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen oder Unheil im Lande angerichtet hat, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit ermordet. Und wer ein Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten.“ (Koran 5/32)
Die islamischen Theologen, vor allem die islamischen Rechtsgelehrten, haben aus diesem Vers ein Prinzip entwickelt: das Prinzip des Schutzes bzw. des Erhaltens und Bewahrens des Lebens. Nach diesem Prinzip interpretieren sie die ganzen islamischen Vorschriften. Somit sollte also jede Vorschrift der Schri‘a diesem Prinzip dienen, sonst wäre sie zweckwidrig. Genauso gilt es für alle ethischen Regeln bzw. rechtlichen Gesetze, welche die islamischen Gelehrten im Sinne der Religion entwickelt haben bzw. in Zukunft entwickeln werden.
Man kann die Bedeutung dieses Prinzips anhand eines einfachen Beispiels klarmachen:
Für einen gläubigen Muslim steht die Pflicht und die Wichtigkeit des Fastens im Monat Ramadan außer Frage. Dennoch sind bestimmte Leute bzw. Altersgruppen, beispielsweise schwangere Frauen und Kinder, diesem Prinzip nach vom Fasten befreit. Wenn also eine schwangere Frau weiß, dass das Fasten für sie oder für ihr Baby schädlich ist, und sie dennoch fastet und sich selbst und ihrem Baby Schaden zufügt, so tut sie, islamisch gesehen, nicht nur etwas nicht Gutes und Gottgefälliges, sondern sie begeht dabei etwas Unzulässiges (ḥarām).
Der Schutz des Lebens meint hier: Schutz des eigenen Lebens und Schutz des Lebens des Anderen.
Was den Schutz des eigenen Lebens betrifft, so soll man nach dem oben genannten Prinzip jedes erlaubte und moralisch gerechtfertigte Mittel zur Verteidigung seines Selbst benutzen und alles vermeiden, was seinem eigenen Leben Schaden zufügt. Genauso gilt das für den Schutz des Lebens der Anderen. Hier müssen sich Musliminnen und Muslime immer den oben zitierten Koranvers vor Augen halten und sich bewusst sein, dass der Schutz und Erhalt des Lebens des Anderen nach dem Koran einen sehr hohen Wert hat und das Vernichten des Lebens des Anderen einen sehr negativen Wert.
Nun übertragen wir das bisher Gesagte auf unsere heutige Lage. Was sollen wir als Muslime in dieser Situation tun bzw. lassen? Das ist die Antwort: Wir sollen alles tun, was zur Bekämpfung des Corona-Virus beiträgt. Dazu informieren wir uns bei Experten und zuständigen Behörden, wie der Weltgesundheitsorganisation, dem deutschen Gesundheitsministerium und dem Robert-Koch-Institut. Wir sollen alle Maßnahmen, die von dem Gesundheitsministerium und den zuständigen Behörden getroffen worden sind, ernst nehmen und befolgen. Wir sollen beispielsweise alle Hygiene-Regeln befolgen, nötige Abstände einhalten, unnötige Versammlungen und Partys meiden und besonders auf alte Leute und Kinder achten. All dies tun und lassen wir im vollen Vertrauen auf Gott und hoffen, dass die Experten, so Gott will, in naher Zukunft ein Mittel gegen dieses Virus finden werden.